Einleitung:
Unfallrekonstruktionen sind einem Unfallsachverständigen und Unfallgutachter vorbehalten. Jedoch können leichte Berechnungen und Rekonstruktionen auch von der Polizei durchgeführt werden, um z. B. an der Unfallstelle Geschwindigkeitsüberschreitungen und eventuelle Vermeidbarkeiten festzustellen, die die Beauftragung eines Sachverständigengutachtens zur Folge haben könnten.
Wichtige Begriffe der Unfallrekonstruktion:
Zunächst müssen wichtige Begriffe der Unfallkonstruktion erläutert und erklärt werden, die während dieses Abschnittes immer wieder angeführt werden:
Betrachten wir ein auf der Fahrbahn fahrendes Fahrzeug (hier Pkw), das in eine Gefahrensituation gerät, dessen Fahrer zu einer Reaktion gezwungen wird und trotz dieser Reaktionen zu einer Kollision kommt:
Reaktionszeit:
Der Pkw-Führer registriert während der Fahrt eine Gefahr. Die von den Sinnesorganen registrierte Gefahr wird vom Gehirn dementsprechend umgesetzt und es kommt hoffentlich zu einer entsprechenden Reaktion. Die Dauer der Reaktion hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Eine Verlängerung der Reaktionszeit kann insbesondere bei höherem Alter oder bei ungünstiger körperlicher bzw. seelischer Verfassung des Fahrers eintreten. Eine Verlängerung der Reaktionszeit kommt ferner bei Alkohol- und Rauschmittelbeeinflussung oder Ermüdung in Betracht.
Die Reaktionsdauer ist also die Zeit, die der Fahrer benötigt, um die Gefahr zu erkennen, den Bremsbefehl zu geben und mit dem Fuß umzusetzen. Durchschnittlich werden 0,8 Sekunden Reaktionszeit für angemessen gehalten; bei erhöhter Bremsbereitschaft (z. B. vor Kindergärten) sind es 0,5 Sekunden.
Umsetzzeit:
Innerhalb dieser Reaktionsdauer fällt noch die Umsetzzeit.
Unter Umsetzzeit (= Fußumsetzdauer oder muskuläre Reaktionsdauer) wird die Zeit verstanden, die der Fahrer für die Umsetzung des Fußes vom Gaspedal auf das Bremspedal benötigt. Während dieser Umsetzzeit fährt das Fahrzeug mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Ansprechzeit:
Nach der o. a. Reaktion wurde nun das Bremspedal betätigt, um das Fahrzeug abzubremsen. Technisch bedingt brauchen jedoch Bremsen vom Berühren des Bremspedals bis zum Ansprechen der Bremsen (maximaler Druckaufbau) eine bestimmte Dauer. Diese Zeit wird Ansprechzeit genannt und endet mit dem Anlegen der Bremsbeläge an die Bremsscheibe bzw. Bremstrommel. Die Ansprechzeit setzt sich aus der Anlegedauer und der Schwellzeit zusammen.
Anlegedauer:
Die Anlegedauer befindet sich in der Ansprechzeit und liegt direkt vor der Schwellzeit. Diese Phase beginnt mit der Bremspedalbetätigung bis zum Zeitpunkt des Anliegens der Bremsbeläge an der Bremsscheibe bzw. Bremstrommel.
Schwellzeit:
Innerhalb der o. a. Ansprechzeit fällt die Schwellzeit. Unter Schwellzeit des Bremssystems wird die Zeit verstanden, die vom Beginn des Druckanstiegs bis zum Erreichen des Vollbremsdruckes vergeht. Sie beträgt bei
- Pkw 0,1 bis 0,3 Sekunden
- Lkw 0,2 bis 04 Sekunden
- Lastzug / Sattelzug 0,4 bis 1,0 Sekunden
- Motorrad (Fußbremse) 0,1 bis 0,3 Sekunden
- Motorrad (Handbremse) 0,2 bis 0,3 Sekunden.
Die Schwellzeit wird bestimmt durch die Ausführung der Bremsanlage sowie durch die Fußkraft und Fußgeschwindigkeit des Fahrers.
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Vorbremszeit:
Die Reaktionszeit und größtenteils die Ansprechzeit zusammengenommen ergibt die Vorbremszeit.
Quelle: Oskar Däppen (HTL Schweiz)
Schrecksekunde:
Die oben aufgeführten Zeiten haben nichts mit dem Begriff "Schrecksekunde" zu tun. Insbesondere die Reaktionszeit wird fälschlicher Weise als Schrecksekunde bezeichnet. Die Schrecksekunde ist im Gegenteil eine Ausnahmezeit und verlängert die normale Reaktionszeit. Sie kommt nur in Ausnahmefällen zum Tragen. Die Schrecksekunde liegt zeitlich zwischen dem Ende der Gefahrenerkennung und dem Anfang der Reaktionszeit. In dieser Zeitspanne ist der Fahrzeuglenker zu keiner zweckgerichteten Reaktion fähig; es liegt eine kurzfristige Reaktionsblockade vor. Die Länge der "Schrecksekunde" ist personen- und situationsabhängig und kann auch kürzer oder länger als eine Sekunde andauern.
Ob und gegebenenfalls in welcher Länge einem Fahrzeuglenker in einer bestimmten Verkehrssituation (z. B. Fußgänger bei Dunkelheit auf der Autobahn) eine "Schrecksekunde" oder besser ausgedrückt Schreckzeit zuzubilligen ist, ist ausschließlich eine Entscheidung des Gerichts.
Bremszeit und Bremsweg:
Unser Pkw-Fahrer hat nun nach der Reaktionszeit und der Ansprechzeit die Vollbremsung eingeleitet. Die Bremsen greifen und verzögern die Räder. Es beginnt die Bremszeit, die mit Stillstand des Fahrzeuges endet. Die in dieser Zeit zurückgelegte Strecke ist der Bremsweg.
Bremsausgangsgeschwindigkeit:
Die Bremsung des Fahrzeuges erfolgt aus einer bestimmten Geschwindigkeit heraus, der Bremsausgangsgeschwindigkeit.
Dies ist die Geschwindigkeit eines Fahrzeuges, die es unmittelbar vor dem Bremsvorgang hatte. Die Bremsausgangsgeschwindigkeit, die für die Geschwindigkeits- und Vermeidbarkeitsberechnungen von größter Bedeutung ist, lässt sich durch eine kompliziert aussehende Formel errechnen, wenn die Bremsstrecke (Bremsweg) und die Bremsverzögerung bekannt sind. Für die Polizei, die nicht mit der genannten Formel rechnen kann, sind die wichtigsten Werte in einer Tabelle zusammengefasst.
Bremsverzögerung:
Die Bremsverzögerung ist die Geschwindigkeitsverminderung über eine gewisse Zeit, auch negative Beschleunigung genannt. Üblicherweise wird die Verzögerung wie auch die Beschleunigung mit dem Symbol "a" bezeichnet. Die Bremsverzögerung ist der Wert, mit dem ein Fahrzeug abgebremst wird. Die Verzögerung ist u. a. von der Fahrzeugart, der Bremsanlage, vom Fahrbahnbelag/-zustand bzw. von der Steigung / dem Gefälle abhängig. Die Bremsverzögerung wird in m/s² angegeben. Die üblichen, mittleren Bremsverzögerungen sind in einer Tabelle zusammengefasst.
Kollisionsgeschwindigkeit:
Während der Vollbremszeit kommt es zur Kollision mit dem Unfallgegner. Da sich der Pkw zu diesem Zeitpunkt noch in Bewegung befindet, erfolgt der Zusammenstoß aus einer bestimmten Geschwindigkeit heraus. Dieser Geschwindigkeitswert ist die Kollisionsgeschwindigkeit.
Kollisionsbedingter Geschwindigkeitsabbau:
Aus der Vernichtung von Bewegungsenergie durch Verformungsarbeit bei der Kollision ergibt sich ein Geschwindigkeitsabbau. Kollisionsgeschwindigkeiten und kollisionsbedingter Geschwindigkeitsabbau können durch die Polizei nicht berechnet werden. Hierzu sind Sachverständige hinzuzuziehen, die diese Werte mittels EES-Rechenprogramme berechnen können.
Kollisionsbedingte Geschwindigkeitsabnahmen von Pkw / Lkw bei Kollisionen mit Fußgängern und Fahrradfahrern betragen 1 - 2 km/h und können vernachlässigt werden.
Anhaltezeit und Anhalteweg:
Die Anhaltzeit ergibt sich aus der Summe von Reaktionszeit, Ansprechzeit und Bremszeit; der Anhalteweg aus der Summe von Reaktionsweg und Bremsweg.
Oskar Däppen (HTL Schweiz) hat aufgrund seiner Ausführungen meine grafische Übersicht verbessert und verfeinert, so dass sich diese Reaktions- und Bremsphasen ergeben:
Quelle: Oskar Däppen (HTL Schweiz)
Vermeidbarkeit:
Die Vermeidbarkeit eines Unfalles ist für einen Unfallbeteiligten dann gegeben, wenn er bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bzw. der örtlich angemessenen Geschwindigkeit oder bei menschlich zuzumutender Reaktion die Kollision hätte verhindern können. Hierbei wird zwischen räumlicher und zeitlicher Vermeidbarkeit unterschieden.
Räumlich ist ein Unfall dann vermeidbar, wenn der Beteiligte unter Einhaltung der o. a. Vorgaben die Kollisionsstelle nicht erreicht hätte, da er bereits vor dieser Stelle zum Stehen gekommen wäre.
Zeitlich ist ein Unfall vermeidbar, wenn der Beteiligte unter Einhaltung der o. a. Vorgaben zeitlich verspätet die Kollisionsstelle erreicht hätte, so dass für den andere Beteiligte die Möglichkeit bestand, den Gefahrenbereich rechtzeitig zu verlassen.
Einfache Berechnungen:
Einfache Berechnungen zur Unfallrekonstruktion sind auch durch die Polizei durchführbar, um überhöhte Geschwindigkeiten oder eine Vermeidbarkeit eines Unfallbeteiligten festzustellen. Diese Berechnungen dienen jedoch in erster Linie nur als Anhalt und als Entscheidungshilfe, ob vorzeitlich ein Sachverständiger hinzugezogen werden soll, der die Unfallrekonstruktion gerichtsverwertbar durchführt.
Berechnungen sind durch die Polizei relativ gut durchführbar, wenn keine die Geschwindigkeit reduzierende Kollisionen stattgefunden haben (Pkw-Fußgänger-Kollisionen und Pkw-Radfahrer-Kollisionen). Eine solche Berechnung wird im nun folgenden Abschnitt durchgeführt.
Ausgangssituation:
Verkehrsunfall zwischen einem Pkw und einer Fahrradfahrerin auf einer innerörtlichen Hauptverkehrsstraße mit drei Fahrstreifen je Richtungsfahrbahn. Bei Eintreffen an der Unfallstelle finden wir die unten skizzierte Spurenlage vor. Ein Zeuge gibt uns gegenüber an, die ca. 70 jährige Fahrradfahrerin sei mit langsamer (gemächlicher) Geschwindigkeit, aus Sicht des Pkw-Fahrers von rechts nach links, auf die Fahrbahn gefahren. Der Pkw ist 7 Meter hinter der Kollisionsstelle zum Stillstand gekommen.
Erste Berechnungen:
Anhand der Brems-/Blockierspurlänge von 18,60 Meter (die längere Spur wird zugrunde gelegt) und einem Verzögerungswert von 8,0 m/s² wird eine Bremsausgangsgeschwindigkeit des Pkw von 62 km/h angenommen (siehe Tabelle zur Berechnung von Bremsausgangsgeschwindigkeiten). Der Pkw-Fahrer hatte die hier zulässige Höchstgeschwindigkeit um 12 km/h überschritten.
Anhand der Zeugenaussage wird bei der Fahrradfahrerin eine Geschwindigkeit von ca. 10 km/h zur Berechnung herangezogen.
Die Bestimmung der Kollisionsstelle ergibt sich anhand der Spurenstörungen innerhalb der Brems- / Blockierspuren (mit einem X in der Skizze gekennzeichnet).
Bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 62 km/h legt der Pkw innerhalb der Vorbremszeit von 1 Sekunde 17,20 Meter ohne Geschwindigkeitsabbau zurück. Die Vorbremszeit von 1 Sekunde ergibt sich aus der mittleren Reaktionszeit von 0,8 Sekunden + 0,2 Sekunden Bremsansprechzeit.
Zusammen mit der Bremsstrecke von 18,60 Meter ergibt dies einen Anhalteweg von 35,80 Meter. Setzt man nun den Pkw 35,80 Meter von seinem unfallbedingten Endstand zurück, so ergibt sich an dieser Position der Reaktionspunkt, d. h. an dieser Stelle befand sich der Pkw, als der Fahrer die Gefahr erkannte und reagierte. zu diesem Zeitpunkt befand sich der Fahrradfahrer ca. 2,80 Meter vor der Kollisionsstelle.
Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h würde der Pkw innerhalb der Vorbremsstrecke von 13,90 Meter (zuvor 17,20 Meter) zurücklegen. Zusammen mit dem Bremsweg von 12,10 Meter (zuvor 18,60 Meter), der sich bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h ergibt, errechnet sich ein Anhalteweg von 26,00 Meter (zuvor 36,80 Meter).
Somit wäre der Pkw bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit und bei gleicher Reaktion 9,80 Meter eher und somit 2,80 Meter vor der Kollisionsstelle zum Stillstand gekommen. Es wäre also zu keiner Kollision gekommen; der Unfall war für den Pkw-Fahrer räumlich vermeidbar.
Eine zeitliche Vermeidbarkeit wäre gegeben, wenn der Pkw zwar auch bei Einhaltung der zul. Höchstgeschwindigkeit die Kollisionsstelle erreicht hätte, aber durch die verspätete Ankunft des Pkw der Fahrradfahrer die Möglichkeit gehabt hätte, sich aus dem Gefahrenbereich zu entfernen.
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